Missbrauch in evangelischer Kirche
Die evangelischen Kirchen in Hessen, EKHN und EKKW, haben mit Betroffenheit auf die Ergebnisse einer umfangreichen Missbrauchsstudie reagiert. Beide betonten ihre Verantwortung gegenüber den mehr als 100 Betroffenen in Hessen und ihre Pflicht zur Aufarbeitung.
EKHN und EKKW sehen sich in der Verantwortung
Nach der Vorstellung einer Studie zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche will der Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, Betroffenen Recht verschaffen. Die Studie helfe, Risiken in kirchlichen Strukturen zu erkennen und weiter präventiv zu arbeiten, sagte Jung am Donnerstag in Darmstadt.
"Wir stehen als Kirche für einen Raum, in dem Menschen sicher sein können", sagte Jung dem hr. "Und wenn Menschen in unserer Kirche sexualisierte Gewalt erfahren, ist es genau das Gegenteil von dem, wofür wir eigentlich stehen."
Man werde alles daransetzen, Verdachtsfällen nachzugehen und Fälle aufzuarbeiten, sagte Jung weiter. Die Studie erfasse Verdachtsfälle und bestätigte Fälle im Zeitraum von 1945 bis 2020. In der EKHN sind für diesen Zeitraum 45 Fälle bekannt.
Dabei gehe es ausschließlich um Fälle, bei denen eine erwachsene Person sexualisierte Gewalt an Minderjährigen ausgeübt hat. Die Beschuldigten und Täter seien "überwiegend Pfarrpersonen", alle seien haupt- oder ehrenamtlich bei der EKHN beschäftigt.
Fälle in allen Kirchenkreisen und Berufsgruppen
Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck teilte mit, aus dem Wissen um Fälle von sexualisierter Gewalt in der EKKW entstehe die Verpflichtung, sich dem Thema zu stellen.
"Dabei stehen die Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt: Wir hören sie und unterstützen sie individuell. Ihnen gegenüber fühlen wir uns verpflichtet", heißt es auf der EKKW-Internetseite.
"Auch unsere Kirche hat versagt und jahrzehntelang nicht auf die Betroffenen und ihr Leid gehört, sondern vor allem die Täter, ihre Familien und das Ansehen unserer Institution im Blick gehabt und falsche Entscheidungen getroffen", sagte Bischöfin Beate Hofmann am Donnerstag. "Auch bei uns gibt es Fälle. In allen Kirchenkreisen, in allen Berufsgruppen."
Die EKKW meldete für die Studie nach eigenen Angaben "34 beschuldigte Personen, die bei der EKKW angestellt sind oder waren". Im Rahmen der Untersuchung seien allerdings weitere Fälle ans Licht gekommen. Deshalb sei von etwa 40 bis 50 Tatpersonen auszugehen, hieß es.
Hohe Dunkelziffer
Zudem seien 76 Fragebögen Betroffener gemeldet worden. Diese Zahl entspreche aber nicht der tatsächlichen Anzahl der Betroffenen. Die Dunkelziffer sei deutlich höher.
"Wir wissen, dass es Menschen gibt, die bis heute nicht darüber gesprochen haben, was sie erlebt haben", sagte Bischöfin Hofmann. Sie hoffe, dass die Studie Menschen ermutige, von ihren Erfahrungen zu sprechen und nicht länger zu schweigen.
Der Forschungsverbund "ForuM - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" hatte am Donnerstag in Hannover die Ergebnisse der ersten unabhängigen, wissenschaftlichen Studie veröffentlicht.
Demnach sind in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1.259 Beschuldigte dokumentiert. Die Untersuchung unabhängiger Wissenschaftler spricht von der "Spitze des Eisbergs".
Die EKD hatte Ende 2020 den Start der unabhängigen Studie im Bereich der EKD und der Diakonie bekannt gegeben. Das Projekt wurde von der EKD und den Landeskirchen mit rund 3,6 Millionen Euro unterstützt.
Nach Angaben der EKHN wird bereits jetzt Menschen, die sich wegen sexualisierter Gewalt melden, unbürokratisch geholfen und in Absprache mit ihnen Anzeige erstattet. Zudem gibt es verpflichtende Schutzkonzepte in kirchlichen Einrichtungen. Es gebe auch eine Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt und eine Anerkennungskommission.